News August 2018

Die Ursachen der mangelnden Abgrenzung

Wer gut für sich sorgen kann, der kann eines auch gut: Er ist in der Lage sich abzugrenzen, er ist in der Lage Ja zu sagen zu sich selbst und dem Raum, den er braucht, körperlich, geistig und seelisch. Wer sich abgrenzen kann sagt nicht Ja, wenn er Nein meint, er steht für sich selbst und seine Bedürfnisse ein, er schützt  und artikuliert sie. Das hört sich gar nicht so schwer an, ist es aber für viele Menschen. Wie oft sagen wir Ja, wo wir Nein sagen müssten, weil wir genau wissen, mit diesem, leicht dahingesagten Ja tun wir uns selbst nichts Gutes. Leicht gesagtes ja? Ja, weil das Nein viel schwerer zu sagen wäre. 

Warum ist das so? Woran liegt es, dass ein Mensch sich nicht abgrenzen kann?

Der Urgrund für die Unfähigkeit uns abzugrenzen liegt in unserer Biografie. Ein Umfeld in dem die kindlichen Grenzen massiv überschritten werden, in dem es genötigt wird Dinge zu tun, die es nicht tun will, legt den Grundstein dafür, dass das Kind nicht lernt seine Integrität zu wahren. Wer als Kind mit Erwachsenenmacht, bis hin zum Missbrauch, konfrontiert wurde, erlebt Grenzüberschreitung. Dazu gehört auch der scheinbar harmlose Satz: „Du musst lieb sein.“

Kinder, die Grenzverletzungen erfahren haben, lernen nicht die eigenen Grenzen überhaupt wahrzunehmen. Sie verinnerlichen Übergriffigkeit als etwas, das zu ihrem Lebensgefühl gehört. Obwohl sie spüren, dass da etwas nicht stimmt, denn es fühlt sich ungut an, ja sogar bedrohlich, wenn Grenzen seelisch oder körperlich immer wieder verletzt werden, fehlen Ihnen die Mittel, um sich als kleiner Mensch gegen die Großen zur Wehr zu setzen. Jede Form von Übergriffigkeit ist ein gewaltsames Eindringen in die kleine Seele. Sie schreit innerlich. Es ist ein erstickter Schrei, der nicht hinaus darf, der stecken bleibt und sich verwandelt, in ein Gefühl von Ohnmacht. Ich kenne dieses Gefühl. Noch heute, wenn mir jemand körperlich oder seelisch zu nahe tritt, kommt es hoch. Dann spüre ich es wieder, dieses erstickte Nein und es aussprechen ist eine Überwindung, die mir noch immer nicht leicht fällt. Aber, wann ist es mir zu nah? Wann erwartet jemand etwas von mir, was ich nicht erfüllen will. Es ist schwer, das im selben Moment zu erkennen. Und selbst wenn ich es erkenne und spüre, das will ich jetzt nicht, ist es schwer das auch zu artikulieren. Der Versuch auf die eigene Grenze hinzuweisen, löst Schuldgefühle aus, er löst das Gefühl aus, das darf ich nicht. Heute weiß ich - weil dieses Nein nicht erlaubt war, als ich Kind war. Menschen, die sich schwer abgrenzen können fehlt Selbstsicherheit.  Sich seiner selbst sicher sein, dazu gehört die Fähigkeit, uns unserer eigene Bedürfnisse bewusst zu sein, sie aussprechen und zu leben. Die Fähigkeit uns abzugrenzen gehört zu einer gesunden sozialen Kompetenz. Diese soziale Kompetenz ist ein Entwicklungsprozess. Sie basiert auf Lernerfahrungen, welche jene, die sich nicht oder nur schwer abgrenzen können, nicht machen durften. Wer als Kind Grenzüberschreitungen erlebt hat, dem fehlt ein stabiles Selbstwertgefühl. Er hat sich als wertlos erlebt, so wertlos, dass man sein Selbst nicht achtete. Seine Erfahrung ist die des Machtlosen in einer Abhängigkeitsbeziehung von Erwachsenen, der Schritt in Selbstständigkeit und Autonomie, ein wesentlicher Schritt für das Selbstwertgefühl, konnte nicht gemacht werden. Sich selbst gestalten, den eigenen Impulsen nachzugehen, ohne Schuldgefühle, selbst wenn die Eltern davon nicht begeistert waren, wurde nicht erlernt. Doch genau diese Lernerfahrung ist die entscheidende Voraussetzung für die Entwicklung einer selbstbewussten und selbstsicheren Persönlichkeit. Schon kleine Kinder brauchen einen eigenen geschützten Raum und Dinge, die für andere unantastbar sind. Wenn diese Individualbereiche, diese Grenzen, in der Erziehung nicht respektiert wurden, fällt es ihnen später schwer sie zu schützen oder gar zu erkennen. 


Ein Kind, das nicht es selbst sein darf, das sich nicht seinem Wesen entsprechend entfalten darf, verliert das Gefühl für sich selbst. Es dissoziiert, es spaltet das Unerträgliche ab, eben weil es unerträglich ist, es zerbricht in Stücke, die innere Stabilität seines kleinen inneren Hauses zerbirst, es kennt sich nicht mehr aus, weiß nicht wer es ist und wer es nicht ist. Es verliert das Gefühl für sich selbst. Jedes Kind will geliebt werden, darum wird es die Wünsche der Eltern zu erfüllen suchen und sogar Übergriffe ertragen. Das erklärt auch warum misshandelte und missbrauchte Kinder nicht von ihren Eltern weg wollen - sie lieben sie, auch wenn diese Liebe sie zerstört, es ist die einzige, die sie haben. Sie zählt mehr als alles und mehr als Selbstschutz. Die Eltern zu verlassen, die Liebe zu den Eltern zu verlieren, würde für diese Kinder den Sturz ins Bodenlose bedeuten. 

Die Fähigkeit zur Abgrenzung ist die Vorrausetzung für Selbstschutz. 

Ich möchte das nicht, klingt einfach. Doch allein dieser Satz führt bei vielen, die sich schlecht abgrenzen können, zu einem schlechtem Gewissen. Selbstwertgefühl und das daraus erwachsende Gefühl von Selbstsicherheit, ist zu wissen wer wir sind, was wir brauchen und damit die Fähigkeit, eigene Bedürfnisse und Rechte auszusprechen und zu leben. Einem Menschen aber, dessen Widerstandskraft früh gebrochen wurde gelingt es nur schwer für sich einzustehen. Er hat eine Vulnerabilität, die ihn hochempfindlich macht, im Hinblick auf psychische Belastungen und im Hinblick auf das Nein sagen, denn auch das wäre für ihn eine psychische Belastung. 

Sie, die selbst verletzt wurden, wollen niemanden verletzen und tun es doch. Darin liegt die Paradoxie des erlernten Musters. Sich nicht abgrenzen können und selbst die Grenzen anderer zu überschreiten, das ist die andere Seite der Medaille. Wer Übergriffigkeit und Grenzverletzung erfahren hat, hat dies als Introjekte verinnerlicht. Er neigt selbst dazu unbewusst die Grenzen des anderen zu überschreiten. Introjekte sind Eigenschaften der Eltern. Als Kind übernehmen wir diese. Die Folge – wir behandeln uns als Erwachsene genauso, wie es die Mutter oder der Vater getan haben. Und wir suchen uns instinktiv andere, die uns ähnlich behandeln.

Abgrenzung ist demnach ein Kraftakt gegen die eigene Konditionierung und die unbewusst verinnerlichten Introjekte.
  
Dazu kommt: Das fehlende Selbstwertgefühl, die mangelnde Selbstsicherheit führen letztlich zum mangelnden Vertrauen, das Leben allein und autonom bewältigen zu können. Daher kommt der Impuls ständig die Erwartungen anderer Menschen erfüllen oder sogar erspüren zu müssen. Die zur Abgrenzung Unfähigen ertragen vieles aus der Angst heraus eine komplette Ablehnung ihres Menschseins zu erfahren. Eine Erwartung nicht zu erfüllen gibt ihnen das Gefühl, „ich bin ein schlechter Mensch“, sie fühlen sich schuldig, wenn sie Nein sagen sollten. Sie ertragen keine Zurückweisung und es fällt ihnen selbst schwer andere zurückzuweisen.

Was uns als Kind vertraut war kennen wir am Besten. 

In einer Art Wiederholungszwang versuchen wir daher als Erwachsene Vertrautes wiederherzustellen auch und paradoxerweise gerade, wenn es ungut war. Aber es ist uns vertraut. Wer Grenzverletzung erlebt hat, signalisiert als Erwachsener: Du darfst meine Grenzen zu überschreiten. Er signalisiert Schwäche, die andere instinktiv spüren und ausnutzen. Und wieder und wieder wird erlebt, was als Kind erlebt wurde. Ein Teufelskreis.

Grenzüberschreitungen haben mit Nähe zu tun, mit einem sehr nahe, einem zu nah.
  
Echte Nähe aber ist etwas anderes, sie basiert auf einem gegenseitigen Entgegenkommen und ist niemals einseitig. Nähe bei einer Grenzüberschreitung macht Angst. Ein Kind, das von seinem Vater oder der Mutter wider Willen ständig geknuddelt wird, das immer wieder die elterlichen Bedürfnisse nach Nähe erfüllen muss, erlebt keine echte Nähe, es erlebt einen Übergriff. Und es wird später Angst vor jeder Art von Nähe haben, die es sich nicht von sich aus wünscht und zulassen will. Dass diese Menschen Schwierigkeiten nicht nur mit sich selbst, sondern auch in Beziehungen haben, ist nicht verwunderlich. Sie tanzen mitunter lebenslang die Schritte, die man ihnen beigebracht hat. Ein Tanz, der von einer extremen Nähe -und Distanz - Choreografie lebt, ein Tanz, dem ihm das Dahingleiten, die Leichtigkeit des Seins, fehlt. Der erste Schritt ist, wie immer, sich bewusst zu machen welcher Choreografie wir folgen und uns zu beobachten, wie wir uns dabei fühlen. Sicher werden wir dann nicht sofort Nein sagen können, wo wir Nein meinen, aber wir werden achtsamer unserem leicht dahin gesagten Ja gegenüber, achtsamer auf unsere eigenen Grenzen.

 

Die Methode der Selbstintegration nach Dr. Langlotz hilft wieder Verbindung zum eigenen Selbst herzustellen und Fremdes Abzugrenzen.

Ein von mir entwickeltes Systemisches Atom( Seelenbild) zeigt von wem oder durch was euer eigenes Selbst belegt ist, was muss ich abgrenzen um ein autonomes Leben führen zu können.

 

Brigitte