News Mai 2018

Fehlendes „ ICH“

Wenn Menschen mit Besonderheitsansprüchen nicht bekommen, was sie wollen und das ist oft nicht weniger als uneingeschränkte Aufmerksamkeit, dann werden sie, wenn sie ihre Ansprüche offen formulieren wütend und wenn sie sich das nicht trauen, krank und hilflos, in einer Weise, die oft in Richtung emotionaler Erpressung geht. Das ist nicht gespielt, in dem Sinne, dass man das mit Vorsatz macht, sondern eine Reaktion der Not, Ohnmacht und auch der Unwissenheit. Die Gefühle der Panik oder Ohnmacht sind schon echt, wenn auch nicht ganz klar ist, worum es gehen soll. Oft in Richtung: „Sei einfach für mich da, lass‘ mich nicht im Stich und nicht alleine.“ Das ist natürlich oft eine Forderung von Menschen, die sehr genau wissen, wie es ist, in wichtigen Situationen, wenn man Hilfe und Beistand bräuchte oder gebraucht hätte alleine gelassen zu werden.

Zwar müssen wir die meisten Situationen so oder so alleine durchstehen, aber die Frage ist, wie unser jeweiliger emotionaler Hintergrund aussieht. Haben wir vermittelt bekommen, dass wir um unser selbst willen geliebt werden und nicht für unsere Leistungen, dass es immer jemanden gibt, zu dem dem wir zurück kehren können, dann überstehen wie auch Abnabelungen gut und haben hinreichendes Selbstvertrauen, aber es gibt Menschen, die all das nie erfahren durften und um die sich schon als Kind niemand gekümmert hat.

Dass diese Menschen nun irgendwann und endlich erfahren und erzwingen wollen, was als Kind angemessen gewesen wäre, ist so rührend, wie verständlich und doch in der Zeit verrutscht. Anklammern ist nun die falsche Strategie, auch wenn es im Leben von Menschen mit Ich-Schwäche Phasen gibt, in denen sie sich nicht vorstellen können, nicht einmal vorstellen, dass sie je etwas alleine hinbekommen können.

Die offensiv Ich-Schwachen sind vollkommen entrüstet, wenn man ihnen nicht den gebührenden Respekt entgegen bringt. Es kommt auf die Situation an, ob sie das schwer verunsichert oder sie das einfach in gewohnter Weise dadurch lösen, dass der andere nun unten durch ist.

Eine letzte und bekannte Form der mangelnden Impulskontrolle liegt vor, wenn Menschen schnell an die Decke gehen und immer wieder zu Wutausbrüchen oder hoch dramatischen Szenen neigen. Auch hier finden wir ein Ich, was sich schnell bedroht, missverstanden und angegriffen fühlt.

Angst vor Verantwortung

Menschen mit Ich-Schwäche haben in aller Regel große Probleme mit ihrem Alltag. Einfache Aufgaben, die für die meisten Menschen normal und nicht mal der Rede wert sind, bedeuten für sie immensen Stress. Das intensiviert sich in aller Regel noch einmal, wenn sie darum gebeten werden, etwas für andere zu tun. Das nicht, weil sie egozentrisch wären – was sie oft, aus der Not heraus, tatsächlich sind – sondern, weil die Verantwortung, die sie für andere übernehmen, sie fast zerreißt. Manchmal kaum in der Lage für sich selbst zu sorgen, wird nun erwartet, dies auch noch für andere zu tun und das ist mit riesigen Angstphantasien darüber besetzt, was passiert, wenn etwas schief geht. Nie wird der andere anerkennen können, dass man sich, im Falle eines Versagens, bemüht hat, immer wäre er in der Phantasie maßlos enttäuscht und könnte nie wieder verzeihen, was eine projektive Identifikation ist, es ist die eigene Aggression, die man hier zu erkennen glaubt, freilich ohne sie bei sich zu erkennen. Natürlich möchte man eine solche Kleinigkeit nach Möglichkeit auch nicht ausschlagen, denn auch das müsste unvermittelt Wut bis zum Kontaktabbruch nach sich ziehen, aus eben erwähnten Gründen. Also gibt es in der Praxis oft ein fürchterlich konfuses Gemurkse auf hohem Stresslevel.

Anders geht der grandios ich-schwache Mensch mit dem Thema um. Irgendwo zwischen Versagensangst und Übermut, zwischen „merkt hoffentlich keiner“ und „merkt schon keiner“. Oft ist ein ich-schwacher Mensch hier aber von immensem Ehrgeiz getrieben und kann auf seinem Gebiet gut sein, wenn auch die Tendenz zur Selbstüberschätzung gegeben ist. Verantwortung wird hier oft nicht ernsthaft übernommen, weil der einzige Mensch, der wirklich interessiert oft der Betreffende selbst ist und solange nichts auffliegt, falls man Verantwortung für andere hat, lässt man schon mal Fünfe gerade sein. Ein Hang zur Korrumpierbarkeit, bei dem sich für andere eher dann interessiert, wenn es eigenen Interessen nutzt, in dem Perfektion einfordert, aber nicht bietet.

Zermürbende Schuld- und Schamgefühle

Der Grund für die emotionalen Turbulenzen, die Bitten anderer oft auslösen, sind neben der Angst vor Verantwortung oder mit dieser gemischt, massive Gefühle der Scham oder Schuld. Zum einen das Schamgefühl versagen zu können oder versagt zu haben, was so intensiv empfunden wird, dass man das Gefühl hat das Gepött der Menschheit zu sein und sich nie wieder irgendwo blicken lassen zu können, ohne, dass andere sich den Mund zerreißen.

Wenn es nicht mehr so sehr um den eigenen Gesichtsverlust geht, kann das quälende Gefühl aufkommen vollkommen versagt und damit eine nie wieder gut zu machende Schuld auf sich geladen zu haben. Dass andere einem verzeihen könnten, ist kaum vorgesehen, wieder aus Gründen der projektiven Identifikation, man selbst kann es auch nicht und da man sich höchstens vorstellen kann, dass jemand so tut als würde er verzeihen, weil das erwartet wird, ohne, dass er tatsächlich ein vergebendes Gefühl hat, kann man nicht empathisch sein mit dem Gefühl echten Verzeihens. Man kann sich nicht vorstellen, was man nicht kennt.

Der grandiose Mensch mit Ich-Schwäche hat auch Angst vor der maßlosen Wut des anderen (die er ihm unterstellt) und bagatellisiert das Geschehene daher oftmals. Ist doch nichts passiert und wenn, soll der andere sich nicht so anstellen, es gibt schließlich Schlimmeres. Solange ich den anderen klein halte, kann er mir nicht gefährlich werden und so kommt es zu der merkwürdigen Tendenz ihm die eigentliche Schuld für das eigene Versagen zu geben, ein gar nicht so unbekanntes Gesellschaftsspiel.

Eure Brigitte